News aus dem Thurgau
Anfänge und Bedeutung des Klosters Reichenau

1300 Jahre Glaubensgeschichte

von Interview: Detlef Kissner
min
27.07.2024
Vor 1300 Jahren hat der Wandermönch Pirmin auf der Insel Reichenau ein Kloster gegründet. Die Benediktinerabtei wuchs im Mittelalter zu einem geistigen, kulturellen und politischen Zentrum in Europa heran und brachte einzigartige künstlerische Handschriften hervor. Professor Eckart Köhne, Direktor des Badischen Landesmuseum, ordnet ein.

Herr Köhne, wie verbreitet war das Christentum im Bodenseeraum zur Zeit der Klostergründung?
Konstanz war sehr früh ein Bischofssitz. Insofern muss das Christentum in dieser Gegend schon verbreitet gewesen sein. Wir wissen aus der Legende, dass für die Klostergründung alemannische Fürsten die Insel Reichenau zur Verfügung gestellt haben.

Wie hat sich die Klostergründung auf der Reichenau konkret abgespielt?
Neuere Grabungen haben gezeigt, dass die Insel nicht völlig leer war, als das Kloster gebaut wurde. Die erste Kirche lehnte sich schon an ein steinernes Gebäude an, das älter war. Das spricht gegen die schöne Legende, dass erst durch den heiligen Pirmin Schlangen und anderes Getier von der Insel vertrieben wurden, um sie bewohnbar zu machen. Die Insel war keine komplette Einöde. Sie gehörte wohl den lokalen Eliten, die die Ansiedlung des Klosters beförderten.

Warum unterstützten die alemannischen Fürsten eine solche Klostergründung?
Es ging ihnen um ihr Seelenheil. Gebete wurden als Schlüssel angesehen, um für das Jenseits vorzusorgen. Da die Fürsten mit anderen Dingen beschäftigt waren, unterstützen sie die Gründung von Klöstern, die stellvertretend für sie beten sollten. Das war eine Win-win-Situation für die Klostergründer und die lokalen Fürsten. Ein Zeugnis für diese Vorstellung ist auch das Reichenauer Verbrüderungsbuch, in dem 38'000 Namen verzeichnet sind. Die Eingetragenen erhofften sich Vorteile im jenseitigen Leben, wenn dieses Buch bei Gottesdiensten auf dem Altar lag und sie damit in die Gebete eingeschlossen wurden.

Woher wissen wir heute so genau von der Klostergründung?
Wir haben Urkunden, die die Gründung beschreiben. Sie haben nur den kleinen Schönheitsfehler, dass sie aus dem 12. Jahrhundert stammen, also nachträglich angefertigt worden sind. Aber sie sind vermutlich keine Fälschungen aus dem Nichts, sondern es handelt sich um eine nachträglich Beurteilung eines Zustandes, der ein Gewohnheitsrecht gewesen ist. Denn die Namen, die in den Urkunden genannt werden, kann man mit der lokalen Geschichte des frühen 8. Jahrhunderts in Verbindung bringen. Damit lässt sich die Klostergründung relativ gut datieren.

Der heilige Pirmin soll in weniger als zwanzig Jahren fast zehn Klöster gegründet haben. Wie ist das möglich?
Pirmin ist von seiner Biografie her schwer zu greifen. Er war ein Wandermönch, der wohl aus Irland stammte oder nach Art der irischen Mönche unterwegs gewesen ist, die tatsächlich mit dem Ziel unterwegs waren, für die Gründung von Klöstern zu werben. Wenn ein Kloster etabliert war, sind sie weitergezogen. Auch Pirmin ist weitergezogen und verstarb um 753 im Kloster Hornbach, das er auch gegründet hatte und in dem er bestattet wurde. Für das Reichenauer Kloster war es eine Einschränkung, dass die Reliquien des Gründers, der später heiliggesprochen wurde, nicht vor Ort verehrt werden konnten. Man behalf sich später damit, dass man Reliquien anderer Heiliger auf die Insel holte.

Pirmin hat die Verantwortung vor seiner Weiterreise an jemand anderen übertragen?
Ziel war es, ein Kloster autark zu machen. Dazu brauchte es neben dem Klostergebäude Ressourcen wie Ländereien, die das möglich gemacht haben. Wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen geklärt waren, die dem Kloster ein autarkes Leben garantierten, konnte die Leitung, die Abtwürde, an einen anderen übertragen werden.

Wie kam das Kloster auf der Reichenau zu Mönchen und Brüdern?
Das waren in der Regel Adlige, die von ihren Familien für die kirchliche Laufbahn vorgesehen worden waren. Die Verbindung zwischen den führenden Eliten und den Klöstern ist mit der Gründung vorgezeichnet. Die Klöster waren sehr bedacht darauf, unter ihren Mönchen auch Angehörige der wichtigen Familien zu haben, die dann tatsächlich dafür gesorgt haben, dass das Kloster weiter unterhalten wurde und sich sein Besitz gemehrt hat.

Welche kulturellen Leistungen hat das Kloster auf der Reichenau erbracht?
Eine grosse Leistung des Klosters war es, eine Bibliothek zu gründen, dort Wissen anzusammeln und in Verbindung damit eine Klosterschule zu betreiben. Dieses wissenschaftliche Engagement ging über die Grundaufgaben des Klosters deutlich hinaus und hat das Kloster in Verbindung mit dem karolingischen Hof gebracht. Das Kloster war nicht nur Teil einer geistlichen Community von europäischen Klöstern, sondern auch Teil des herrschenden Systems. Walahfrid Strabo (807-849), ein begnadeter Dichter und Autor und berühmtester Abt der Insel Reichenau, war zuvor Leiter der königlichen Hochschule in Aachen gewesen. In den Klöstern konzentrierte sich Wissen und Innovation. Das Reichenauer Kloster sticht dabei heraus, weil im 9. und 10. Jahrhundert das Skriptorium hinzukam.

Welche politische Bedeutung hatte das Kloster?
Es gab Äbte, die für mehrere Klöster zuständig waren. So auch Hatto III. von Reichenau, der als Hatto I. Erzbischof von Mainz wurde. Zudem war er Vormund des späteren Karolingerkönigs. Mainz war damals ein Zentrum des Kaiserreiches. Dort wurde Politik gemacht. Durch Hatto III. erlangte das Kloster Reichenau grossen politischen Einfluss. Im 8. und 9 Jahrhundert kam den Äbten grosse Macht zu, welche danach mehr auf die Bischöfe überging.

Wie lässt sich das Verhältnis zum Kloster St. Gallen beschreiben?
Wir wissen über die Listen der ausgetauschten Bücher, dass man in regem Austausch gestanden ist. Man unterstützte sich auch gegenseitig. Der St. Galler Klosterplan wurde auf der Reichenau als fachliche Arbeit für die Gemeinschaft in St. Gallen angefertigt. Es gab auch Phasen, in denen man eher in Konkurrenz um Ressourcen oder um die kaiserlich Gunst stand. Alles in allem war es war ein brüderliches Verhältnis mit einer gewissen produktiven Konkurrenz.

Wann ist das Skriptorium des Klosters entstanden? Welche Bedeutung hatte es?
Es gab im Kloster sicher schon sehr früh Bücher. Denn man brauchte diese ja für den liturgischen Betrieb. Die meisten Bücher sind Werke, die man in Gottesdiensten einsetzte. Im frühen 9. Jahrhundert katalogisierte der Bibliothekar Reginbert die vorhandenen Schriften. Das Reichenauer Skriptorium war bis ins 11. Jahrhundert hinein eines der berühmten und stilprägenden Skriptorien. Man muss davon ausgehen, dass die Künstler des Skriptoriums mobil waren. Die Widmung des berühmten Egbert-Kodex zeigt zwei Reichenauer Mönche, die ihr Werk dem Bischof von Trier überreichen. In der Forschung geht man davon aus, das auch Trierer Mönche mitgearbeitet haben und dass das Werk unter Beteiligung der Reichenauer Mönche entstanden ist. Vergleichbares lässt ich vom Egidius-Kodex sagen, der unter Mitwirkung eines Reichenauer Malers in Köln entstanden ist.

Was ist das Besondere am Reichenauer Skriptorium?
Es hat einen besonderen, kunstvollen Stil entwickelt. Die Künstler haben sich in ihren Werken auch selbst dargestellt. Da treten Schreiber- und Malerpersönlichkeiten hervor.

Was wurde dort geschrieben oder abgeschrieben?
Dort entstanden vor allem liturgische Schriften, aber auch Werke über Kirchenmusik, Botanik oder Astronomie. Ein wichtiges Thema war die Berechnung des Jahreslaufes. Denn davon hingen ja die kirchlichen Feste ab. Es wurden auch ältere Autoren kopiert. Und schliesslich wurden in den Skriptorien Urkunden für die Verwaltung angefertigt.

Welche Schriften werden bei Grossen Landesausstellung gezeigt?
Es sind ungefähr 65 bis 70 mit Bildern geschmückte Prachthandschriften erhalten, die man der Reichenauer Schule zuweisen kann. Davon sind zehn exemplarisch ins UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen worden. Von diesen zehn können wir fünf in der Landesausstellung zeigen, wie zum Beispiel den berühmten Egbert-Kodex oder den Egbert-Psalter aus Cividale. Zudem werden noch ein gutes Dutzend weitere, mit Bildern geschmückten Handschriften gezeigt. Das sind die Highlights der Ausstellung.

Was bietet die Ausstellung darüber hinaus?
Die Ausstellung ist thematisch aufgebaut. Sie geht dem Phänomen der Klostergründung auf Inseln nach, zeigt, wie Klosterregeln entstanden und umgesetzt wurden, wie sich Klöster architektonisch entwickelt haben, und gibt Einblicke in deren Tagesablauf. Neben den Handschriften werden Objekte, die die frühen Klostergründungen belegen, das Verbrüderungsbuch, kunstvolle Elfenbeinarbeiten und liturgische Geräte gezeigt. Eine besondere Goldschmiedearbeit ist der Egbert-Schrein aus Trier, ein Tragaltar, in dem Reliquien aufbewahrt werden. Zu meinen Lieblingsobjekten gehört ein bronzener Wetterhahn aus dem 9. Jahrhundert, den wir aus Brescia ausleihen konnten.

Was ist aus ihrer Sicht das Besondere an dieser Ausstellung?
In der Ausstellung sind hochkarätige Objekte vereinigt, die man in dieser Zusammenstellung selten zu sehen bekommt. Der Charme der Ausstellung besteht darin, dass sie mit dem authentischen Ort verknüpft ist, an dem die Werke entstanden sind. Der Besuch der Ausstellung lässt sich mit der Besichtigung der drei Kirchen der Reichenau verbinden, die auch zum UNESCO-Welterbe gehören. Man kann die Buchmalereien mit den ottonischen Fresken in der Kirche St. Georg vergleichen oder sich bei einem Spaziergang über die Insel vorstellen, wie es hier im Mittelalter ausgesehen hat.

Was führte schliesslich zum Niedergang dieses blühenden Klosters?
Das hat vielschichtige Ursachen. Zum einen kamen die Städte und Bistümer immer mehr auf. Die Bedeutung, die man den Klöstern beigemessen hatte, ging damit auf die Bistümer über. Zum anderen wurden die lokalen Adligen immer wichtiger. Sie reklamierten auf einmal Ländereien und Dörfer für sich, die zuvor vom Kloster verwaltet wurden. Schliesslich stand ein Kloster immer wieder vor der Aufgabe, sich zu reformieren. Es mussten viele Faktoren stimmen, dass es einem Kloster wirklich gut ging. Beim Reichenauer Kloster kann man einen schleichenden Bedeutungsverlust konstatieren, der darin gipfelte, dass im 15. Jahrhundert das Bistum Konstanz dessen Verwaltung übernahm.

Grosse Landesausstellung 2024

Im Mittelpunkt der Grossen Landesausstellung «Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau», die bis 20. Oktober im Archäologischen Landesmuseum Konstanz zu sehen ist, stehen fünf kunstvolle Handschriften aus dem Skriptorium des Klosters Reichenau. Die im 10. und 11. Jahrhundert entstandenen Schriften gehören zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Darüber hinaus sind weitere wertvolle Zeugnisse aus dem Leben des Klosters zu sehen. Begleitet wird die Ausstellung durch zahlreiche Veranstaltungen, einen Podcast über das klösterliche Leben und eine App mit einem Multimedia-Guide für die Ausstellung. Nähere Infos: www.ausstellung-reichenau.de und www.reichenau1300.de

 

 

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